Höre! Von der Seelsorge im Altenheim
Bereits seit zwei Jahren bin ich nun schon als Seelsorgerin tätig. So ganz richtig ist diese Bezeichnung ja nicht. Aber wer hört denn noch hin, wenn ich mich offiziell als „Seelsorgliche Begleitung in einer Einrichtung der stationären Hilfe kirchlicher und nichtkirchlicher Träger im Erzbistum Paderborn“ vorstelle?!
Hinhören ist übrigens eine meine Haupttätigkeiten. Zunächst einmal höre ich überall im Alltag unserer Bewohner und Bewohnerinnen etwas genauer hin, ob jemand Sorgen hat oder traurig ist. Dann nehme ich mir möglichst in den nächsten Tagen Zeit für ein Gespräch oder auch für zwei, fünf, zehn oder zwanzig. Wie lange braucht es, mit Traumata zurechtzukommen? Das ist so unterschiedlich wie es Menschen gibt.
Eine heimatvertriebene Bewohnerin fasst in Worte, was viele andere auch bemerken: „Ein Leben lang war ich beschäftigt genug, um alles zu verdrängen. Jetzt sitze ich hier, habe Zeit zum Nachdenken und es kommt alles wieder hoch!“
Die furchtbaren Schrecken des Krieges im Sudetenland haben die Bewohnerin trotz oder gerade wegen jahrzehntelanger Verdrängung in die Depression (deutsch: Unterdrückung) geführt. Viel Zeit brauchte es, bis die Bewohnerin die Ängste von damals überhaupt andeutungsweise in Worte fassen und damit begreifen konnte. Jedes Mal, wenn ich sie besuchte, holte sie ein Stück Grauen mehr aus ihrer Seele ans Tageslicht. Sie selbst sagt, es hätte gut getan, es jemandem zu erzählen und sich verstanden zu wissen. Geteiltes Leid ist eben immer noch halbes Leid. Es trägt sich leichter. Therapiehund Joshua saß jedes Mal auf ihren Wunsch hin auf ihrem Schoß und ließ sie spüren, dass es trotz aller Dunkelheit Wärme, Liebe und Leben gibt.
Das Hören beginnt übrigens schon vor der Zimmertür. Nein, nein, ich lausche nicht, halte nur kurz inne, um mich auf den zu besinnen, der mir die Kraft und auch die Worte für meinen Dienst gibt, um Einsamkeit, Krankheit, Sorge, Traurigkeit oder auch dem Tod zu begegnen.
„Sch’ma Jisrael – höre Israel“ fordert Gott sein Volk auf. Noch heute beginnt das jüdische Glaubensbekenntnis mit diesen Worten: Höre! Erstmal hinhören, sacken lassen, damit das Wort das Herz erreicht, und erst dann handeln.
Manchmal werde ich gefragt, ob ich wirklich an Erlösung und Auferstehung glaube oder was zu einem bestimmten Thema in der Bibel steht. Wenn ich auf eine solche Frage antworten möchte, muss ich wissen, was ich glaube. Wer Menschen Halt geben möchte, muss sicher stehen, auch in Glaubensfragen. Deshalb ging es in der ersten Zeit der Ausbildung zuerst einmal um meinen eigenen Glauben und – ja – auch um meine ganz persönlichen Erfahrungen mit dem Tod. „Meine Wurzeln sind im Himmel“. Treffender kann ein solcher Kurs gar nicht heißen. Meine Arbeit fußt ja auf der Überzeugung, dass sowohl meine Herkunft als auch mein Ziel durch meinen Schöpfer und Erlöser gewollt, gewünscht, ersehnt und gesegnet sind. Wie wirkungsvoll diese und jede andere Haltung ist, haben Forschungen gezeigt: die Wirkung, die wir auf andere Menschen haben, geht zu über 90 % auf unsere Haltung zurück,- eine für mich sehr wichtige Erkenntnis und große Herausforderung.
Aber natürlich erschöpft sich Seelsorge nicht in Haltung und Zuhören. Auch Gesprächsführung ist notwendiger Baustein der Ausbildung. Vor kurzem durfte ich eine Sterbende begleiten, die immer wieder sagte, sie gehe bald. Wie reagiert man als Begleiterin, die mitten im Leben steht? Was bewegt einen Geist, der sich vom Körper löst und sich auf den Weg nach Hause begibt? Ich fragte sie, ob sie Angst habe. Lange sah sie mir daraufhin in die Augen. Langsam, sehr bedacht bewegte sie den Kopf verneinend hin und her. Das war es also nicht.
Jeder Mensch wünscht sich gerade am Ende seines Lebens eine Bedeutung, die über das Leben hinausgeht, will, dass sein Leben einen Sinn hatte. Welcher Sinn wiegt schwerer als der, geliebt zu haben oder geliebt zu werden von Familie, Freunden, letztlich von Jesus, von unserem Schöpfer, zu dem wir gehen? So betete ich mit ihr, dankte für ihr Leben, sagte ihr auch – endlich -, dass ich sie sehr gern habe. Wenige Tage nach dieser Zusage ließ sie los. Ihre Seele war versorgt. Seelsorge. Ich stelle immer wieder in der Sterbebegleitung fest: wir Menschen gehen leichter, wenn wir uns geliebt fühlen oder wissen.
Seelsorge nur für Christen? Nein. Zwar ist unsere Bewohnerschaft durchweg christlich geprägt, aber Zweifel, Kirchenferne, Kritik und auch Interesse an anderen Religionen begegnen mir durchaus auch in Beringhausen und dürfen unbedingt so stehenbleiben. Daraus haben sich schon gute Gespräche ergeben. Ich erinnere mich an eine muslimische Reinigungskraft, die sich nicht in das Zimmer einer Verstorbenen traute. Wir haben uns lange über Sterberituale unserer Religionen ausgetauscht, bis sie entschied, sich von der Verstorbenen zu verabschieden. Oder die Sterbende, die erwog, auf den letzten Metern zum Buddhismus zu wechseln. Die Gespräche mit ihr werden mir noch lange in Erinnerung bleiben. Letztendlich hat sie sich für Jesus entschieden.
Es gäbe noch so viel zu erzählen von Marienandachten im Wohnzimmer, von Krautbundsegnung, von Verabschiedungsfeiern für verstorbene Mitbewohner, von der Krankenkommunion, die allesamt zu meinen Aufgaben gehören. Hören. Damit beginnt meine Arbeit als Seelsorgerin. Immer wieder auf‘ s Neue.
Elisabeth Bömken, Sozialpädagogin und Seelsorgliche Begleitung